KI-Insights: Wozu KI?

Nachdem wir uns im ersten Beitrag dieser Reihe der Frage zugewandt haben, was Künstliche Intelligenz (KI) überhaupt sein kann, stellen wir hier die – etwas provokante – Anschlussfrage: Wozu braucht es überhaupt KI? Und warum ist es gerade jetzt sinnvoll, sich intensiv mit ihr auseinanderzusetzen?

Diese Fragen entstehen nicht aus technologischem Aktionismus, sondern aus der Beobachtung eines Wandels, der längst begonnen hat. Die Diskussion um Künstliche Intelligenz ist dabei so facettenreich wie dynamisch: Sie bewegt sich zwischen Effizienzversprechen und Kontrollverlustängsten, zwischen Potenzial und Praxis. Doch eines ist unbestritten: KI ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern Ausdruck – und zugleich Katalysator – eines strukturellen technologischen Umbruchs. Die entscheidende Frage lautet nicht mehr, ob wir uns mit KI beschäftigen sollten, sondern wie wir dies tun wollen – mit welcher Haltung, welchem Zielbild und welchen Partnern.

Und doch zeigen aktuelle Daten des Digitalverbands Bitkom ein differenziertes Stimmungsbild innerhalb der Industrie:

  • 50% der Unternehmen beobachten zunächst, welche Erfahrungen andere machen.
  • 42% sehen sich (noch) nicht ausreichend gerüstet, um KI in bestehende Prozesse zu integrieren.
  • Und 21% halten KI gar für einen Hype, der bald vorüber sein werde.
  • Gleichzeitig fordern über 79 %, die deutsche Industrie solle bei KI eine Vorreiterrolle einnehmen.

Aus unseren alltäglichen Gesprächen mit Unternehmensvertreter:innen wissen wir: Der Wille zur Gestaltung ist da. Die Herausforderung liegt nicht im Zugriff auf Technologien – sondern im Verständnis ihrer profunden Bedeutung und in der Fähigkeit, daraus konkrete Handlungsoptionen zu generieren. Zwischen der Anerkennung von KI als Zukunftstechnologie und ihrer tatsächlichen Anwendung klafft oftmals noch eine große Lücke.

Heute noch unrealistisch, morgen schon Standard

Dabei ist KI nicht nur eine neue Technologie. Sie ist ein tiefgreifender Paradigmenwechsel, der unsere Art zu entscheiden und zu arbeiten fundamental beeinflusst. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass die Entwicklung von KI linearen Mustern folgt. Im Gegenteil: Sie ist kontingent – also prinzipiell offen, unvorhersehbar und abhängig von Kontexten, Entscheidungen und kulturellen Deutungen. KI-Entwicklung verläuft nicht wie ein Fahrplan, sondern gleicht eher einem Netzwerk möglicher Pfade. Genau deshalb ist Gestaltung so wichtig – denn sie wirkt nicht auf ein feststehendes Ziel hin, sondern formt das Ziel mit.

Es bedeutet aber auch: Was heute unrealistisch erscheint, kann morgen Standard sein. Und was heute als führende Technologie gilt, kann morgen überholt sein. Wer auf KI wartet, bis sie „fertig“ ist, verpasst nicht nur Gestaltungsmacht, sondern verliert im schlechteren Fall auch die Autonomie unternehmerischer Selbstbestimmtheit.

Was also tun? Wer KI für Prozessautomatisierung oder Effizienzgewinne einsetzt, hat sehr wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Wenn wir KI aber grundsätzlich auf diese Bereiche reduzieren, laufen wir Gefahr, ihre strukturelle Bedeutung und damit auch tieferliegende Potentiale zu verfehlen.

Neue Beitragsserie der KI-Allianz

Die rasante Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) fordert uns alle heraus – insbesondere in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) sowie kommunalen Institutionen.

In dieser Artikelserie möchten wir essenzielle Fragen zur Künstlichen Intelligenz beleuchten und diskutieren – von der Bedeutung einzelner Fachbegriffe, über ethisch-moralische Fragestellungen oder der Interaktion zwischen Mensch und Maschine, bis hin zur Einordnung globaler Entwicklungen auf der regionalen Ebene und der Bewältigung regulatorischer Herausforderungen – immer mit einem klaren Fokus auf die Anwendungsfelder in Wirtschaft und Gesellschaft.

Zum Autor: Dr. Jan Zipp ist bei der KI-Allianz für die Bereiche KI-Strategie & Innovation sowie das Community Management in Tübingen verantwortlich. Er ist seit über zehn Jahren im KI- und Deeptech-Bereich im In-und Ausland tätig. Seine Schwerpunkte und Veröffentlichungen liegen im Bereich der institutionellen und künstlichen (computational) Kreativitätsforschung, der Mensch-Maschine-Interaktion sowie der Auswirkungen von KI auf die Zukunft der menschlichen Arbeit.

Eine neue Form der Arbeitsteilung

Ein Ansatz, der im wissenschaftlichen Diskurs bereits länger präsent ist und nun auch in der betrieblichen Praxis langsam an Bedeutung gewinnt, ist der der Augmentation. Dabei wird Künstliche Intelligenz nicht als Ersatz für menschliche Arbeitskraft verstanden, sondern als technologisches System, das gezielt dazu beiträgt, menschliche Stärken produktiv zu unterstützen – etwa in Bereichen wie Kreativität, Intuition oder komplexer Entscheidungsfindung. In diesem augmentativen Verständnis tritt KI nicht in Konkurrenz zum Menschen, sondern steht ihm komplementär und verstärkend zur Seite.

Aus der Kreativitätsforschung wissen wir: KI-Systeme sind besonders dann wertvoll, wenn sie nicht kreativ statt des Menschen sind, sondern kreative Prozesse strukturieren, Denkblockaden überwinden helfen und neue Assoziationen vorschlagen – nicht, weil sie originell sind wie ein Mensch, sondern weil sie helfen, andere Muster zu erkennen, Perspektiven zu wechseln, kurz: den Raum des Möglichen und Denkbaren zu erweitern. KI-Lösungen können in diesem Sinne als Katalysatoren dienen. Das gilt insbesondere dort, wo menschliche Fähigkeiten wie Intuition oder Empathie besonders ausgeprägt sind und unsere eigene Aufmerksamkeit im besonderen Maße selektiv oder voreingenommen ist.

Diese ergänzende Rolle ist keine Schwäche der KI – im Gegenteil: Sie ist Ausdruck einer neuen Form von Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine. Und sie eröffnet bislang ungenutzte Innovationsräume – vorausgesetzt, man begreift KI nicht als Ersatz, sondern als Verstärker menschlicher Potenziale, die dementsprechend gefördert werden müssen.

Potenziale nutzen – nicht trotz, sondern wegen der Unsicherheit

Zugespitzt formuliert: KI ist nicht einfach ein weiteres Werkzeug. Sie verändert die Bedingungen, unter denen Werkzeuge überhaupt genutzt werden. Ein funktionaler Zugang zur KI (Stichwörter: Automatisierung und Optimierung) ist hierbei ein oftmals sinnvoller oder gar notwendiger erster Schritt. Doch was tun mit den freigesetzten Ressourcen? Wie Potentiale nutzen und überhaupt erkennen? Was folgen kann, ist eine tiefere Reflexion über das, was wir tun wollen – und warum.

Der Mittelstand hat dafür eigentlich beste Voraussetzungen: Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen verfügen über hochwertige, oft nicht öffentlich zugängliche Daten. Diese Daten sind von großem Wert für den Einsatz und das Training KI-gestützter Systeme – insbesondere, wenn es mit branchenspezifischen Know-How zusammengedacht wird und die Bereitschaft besteht, damit grundsätzlich ergebnisoffen zu experimentieren und über bestehende Geschäftsmodelle hinauszudenken.

“KI ist eine Zumutung – im besten Sinne!”

Die strategische Relevanz dieses Ansatzes zeigt sich nicht zuletzt im geopolitischen Kontext. Digitale Souveränität, also die Fähigkeit, technologische Entwicklungen unabhängig und selbstbestimmt zu gestalten, wird zur Standortfrage. Unsere Gespräche mit Unternehmen zeigen: Es bewegt sich viel. Auch Widersprüche, die lange als unvereinbar galten – etwa zwischen Innovationsdruck und Ressourcenknappheit – lassen sich zunehmend produktiv auflösen. Die Dynamik ist hoch. Und sie ist gestaltbar.

Wir machen uns keine Illusionen: Das alles braucht Zeit, Kompetenzaufbau, institutionelle Lernprozesse. Aber Innovation bedeutet nicht Perfektion. Es bedeutet vor allem, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was wir durch und mit KI erreichen wollen – auch, wenn dieses Ziel erst im Prozess schärfer wird oder sich ändert.

KI ist eine Zumutung – im besten Sinne! Sie erzwingt einen Perspektivwechsel. Und sie eröffnet zugleich neue Möglichkeiten, jenseits unserer bisherigen Routinen und Denkmodelle. Wer sich dieser Zumutung stellt, wird belohnt: Mit neuen Einsichten, mit neuer Gestaltungskraft. KI provoziert neue Denkweisen. Genau darin liegt ihre eigentliche produktive Kraft.

Die Dynamik ist da. Die Innovationszyklen sind schneller, die Erwartungen an Orientierung und Rechtssicherheit aus gutem Grund höher. Eine Vorreiterrolle in der KI-Entwicklung, wie sie sich nahezu 80% der Industrieunternehmen wünschen, braucht den Mut, uns selbst einiges zuzumuten, indem über Automatisierung und Optimierung hinaus gedacht und das augmentative Potential der KI erkannt und genutzt wird – gemeinsam mit Partner:innen aus der Forschung, Kommunen und dem Unternehmertum. Dann sind es bald vielleicht nicht mehr 50% der produzierenden Unternehmen, die erst einmal abwarten, was andere tun. Sondern hoffentlich deutlich weniger.

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